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Dieses Thema hat 1 Antworten
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 Horror, Grusel, Geheimnisvolles, Mystik
dunkelland Offline




Beiträge: 154

14.04.2008 23:30
RE: Dunkelland Antworten

Dunkelland

W. Brenner


Anne hatte den Zeitpunkt gut gewählt. Trostlos präsentierte sich dieser Tag, der eisige Regen hatte auch das letzte bisschen Farbe aus der Welt gewaschen und dafür den Nebel gebracht, der träge über die nassen Felder kroch. Wenige Gestalten, den Kopf zwischen die Schultern gezogen und die Hände tief in den Taschen verborgen, liefen ihres Weges entlang, der heute zumeist auf das große, schmiedeeiserne Tor zu führte.
Je näher man dem Eingang kam, desto mehr Menschen traf man, ein stetig anschwellender Strom aus grauen Mänteln, dunklen Hüten und schwarzen Regenschirmen, in dem ab und zu ein bunter Fleck auftauchte, eine rote Jacke vielleicht oder ein gelber Schirm. Darunter verbarg sich die junge Generation, Kinder gar, die an der Hand geführt wurden, hinter den Alten herstolperten, oft nicht ohne gesunden Widerwillen. Denn was es jenseits des eisernen Tores zu finden gab, vertrug sich nicht mit heranwachsendem Leben.
Umso bereitwilliger passierten diejenigen das Tor, die sich bereits dazu entschieden hatten in der Vergangenheit zu leben, ihre Existenz nur noch einer Unzahl alter Erinnerungen verdankten, zu einem Menschenleben zusammengefügt.
Darin lag die Anziehungskraft dieser Stätte und besonders an diesem Tag, dem Feiertag. An diesem Ort nahm Vergangenheit Form an, war in Stein gehauen, in vergoldeten Lettern nieder geschrieben. Gebete wurden gesprochen, Blumen niedergelegt, Hüte gezogen. Man tat seine Pflicht, besuchte den Großvater jetzt regelmäßiger als man es zu dessen Lebzeiten getan hatte. Ein kurzes Verweilen, ein paar Erinnerungen, das schenkte man den Verstorbenen an diesem kalten, grauen Nachmittag. Rasch noch eine Kerze entzündet, dann war es Zeit zurück zu kehren, in das eigene Leben, weit entfernt.

Vor dem Tor hatten sich im Halbkreis kleine Stände angesiedelt, die den Besucherstrom geschickt kanalisierten. In einem ungebauten Wohnmobil dampften Frankfurter Würste neben heißem Leberkäse, eine große Friteuse produzierte ohne Pause fettige Pommes in trübem Öl. Wen der Durst plagte, der konnte eine der verdreckten Getränkedosen erstehen, die schon viel zu lange Teil des Sortiments waren. Die meisten Trauernden aber wurden ohnehin mehr vom heißen Glühwein des Nachbarstandes angezogen, der mit einer Lichterkette und Musik aus dem Kofferradio lockte.
Anne hatte sich in den vergangenen Jahren manchmal heiße Kastanien gekauft, oder Kartoffelpuffer mit Salz, an dem kleinen Stand, der direkt an die Friedhofsmauer angrenzte und eigentlich nur aus einem großen Ofen bestand, um den ein wackeliges Zelt aufgespannt war. Dieses Jahr aber schenkte sie dem Treiben rund um den Friedhof kaum Aufmerksamkeit. Sie bog nicht ab, wie all die anderen, sondern folgte der Strasse, an der Friedhofsmauer entlang, die sie bis zum Ortsende führte. Hier kamen ihr kaum noch Menschen entgegen und als sie den Feldweg erreicht hatte, der von der Hauptstrasse abzweigte, war es wieder still geworden in der Welt.
Der andauernde Regen der letzten Tage hatte das Erdreich aufgeweicht, an vielen Stellen standen schmutzige Pfützen und oft gab der schlammige Boden unter ihren Füßen nach. Im Sommer erreichte sie das kleine Wäldchen schon nach knapp zehn Minuten, wenn sie ihr Rad nahm waren es kaum fünf. Heute verlangte ihr der Weg beinah das Doppelte an Zeit ab, von den völlig verschmutzten Stiefeln ganz zu schweigen.
Der Waldstreifen diente in diesen Tagen als Windschutzgürtel und repräsentierte den letzten Rest ausgedehnter Waldgebiete, die im Laufe der Jahrhunderte der wuchernden Agrarwirtschaft zum Opfer gefallen waren. Immerhin konnte man neben Buschwerk und zumeist dünnem Aufwuchs auch noch einige sehr alte Bäume finden, mit starken, breiten Stämmen und ausladenden Kronen. Das wohl imposanteste dieser lebenden Relikte war eine Buche, deren Stamm zwei Männer nicht umfassen konnten. Im Umkreis von fünfzehn Metern hatte sie alles verdrängt, was neben ihr hätte wachsen können und immer noch schob sie ihre knorrigen Äste in das umliegende Gehölz vor. Dieser Baum hatte seine eigene Lichtung geschaffen, die einzige in dem verfilzten Waldstück, auf der im Sommer anstatt Dornengestrüpp und schmalen Stämmen weiches, grünes Gras gedieh. In den siebziger Jahren hatte man diesem Platz einen kleinen Pavillion spendiert, der zu Beginn kaum genutzt, später dafür von der Dorfjugend entdeckt worden war und inzwischen als Ausgangspunkt so mancher Romanze angesehen werden konnte.
Auch Annes Weg hatte sie zu der alten Buche geführt, und obwohl die hölzerne Bank in dem Pavillion feucht von Nebel und Regen war, setzte sie sich und zog das Buch aus der Manteltasche.
„Der Führer durch sagenhafte Welten“, fand sich in rot – goldener, etwas erhabener Schrift auf dunklem Hintergrund. In der Mitte des Umschlages dominierte die Darstellung eines üppig verzierten Barbarenschwerts, um dessen Klinge sich eine züngelnde Schlange wand. Ein überaus gebräuchliches Symbol wenn es darum ging, fantastische Welten anzukündigen, auch wenn es so gar nicht zu dem passte was Anne eigentlich interessierte, zu dem, was auf Seite einhundertfünfundzwanzig abgedruckt war. Die Ausführungen zu dem Begriff beschränkten sich dabei auf zwei kurze Absätze:

Dunkelland:
1.) Südlichster Kontinent des Tolkien Universums.
2.) Auch Nachtland oder Unterland. Erzählt die Legende eines geheimnisvollen Landes, hinter dessen Grenzen jeder Wunsch Erfüllung finden kann, soweit der Wünschende in der Lage ist diesen richtig auszusprechen. Diese Vorstellung dürfte mehrfach unabhängig in verschiedenen Kulturen entstanden sein. Die früheste bekannte Erwähnung aus Indien, Verbreitung nach China, in späterer Zeit auch auf die arabische Halbinsel und Teile Nordafrikas. Ähnliche Vorstellungen existieren unabhängig davon auch in einigen frühen Hochkulturen Mittelamerikas. Entspricht in etwa auch dem germanischen Utgard (Unterland). Die Wanderung in einem dunklen Landstrich, der dem Wagemutigen großen Gewinn einbringt, barg aber auch Gefahren: „Niemand der stirbt kommt nach Unterland“ berichtet die Snorra – Edda, „außer man nimmt dein Leben an diesem Ort“. Der Übertritt erschien in der nordischen Mythologie trotzdem als möglich, auch wenn davor gewarnt wurde: Wenn Tag und Nacht verschmelzen, weist das Feuer stets den Weg. Denn wer nach Mitgard gehört, solle nicht nach Utgard reisen und was nach Utgard gehört darf nicht nach Mitgard kommen.“


Es begann wieder zu regnen. Vereinzelt schlugen schwere Tropfen raschelnd am Waldboden auf. Irgendwo ganz in der Nähe hatte sich eine Krähe nieder gelassen, die von Zeit zu Zeit ihr raues, hartes Krächzen anstimmte. Die Feuchtigkeit kroch an Anne hoch, und damit auch die Kälte. Langsam wurden ihre Finger klamm.
Bis hierher auf meinem Blog???
Sie hatte diesen Platz ausgesucht, weil er stimmungsvoll war, vor allem aber weil es niemanden gab, der sie hätte stören können. Seit ihre Mutter den Job verloren hatte, verwand diese ihre ganze Energie auf den Hausputz und die Wohnungsdekoration.
„Wir sind ein ordentliches Haus“, bekam Anne regelmäßig zu hören, und: „Wohnen doch keine Zigeuner hier“.
Anne wusste nicht, wie es bei den Zigeunern aussah, eben sowenig wie ihre Mutter, fest stand allerdings, dass es in diesem Haus anders auszusehen hatte. Und so musste Anne ran, ihren Beitrag leisten, der zunehmend größer wurde. Wenn das Boden wischen, Fenster putzen und Geschirrspülen beendet war, hatte des Öfteren Rebecca noch ihren Auftritt, Annes jüngere Schwester, die der herrischen Mutter mit ihren sechs Jahren bereits erstaunlich viel entgegen setzte. Nicht selten endete ein solcher Tag dann in drakonischen Erziehungsmaßnahmen, versank in Streit und Tränen.
Harmloser verliefen solche Abende hingegen wenn Papa zuhause war. Anne hatte dieses ruhige, zurückhaltende Wesen wohl von ihrem Vater geerbt, auch wenn es Momente gab, in denen sie sich unwohl fühlte, in seiner Gegenwart. Er behandelte seine Familie immer mit der gleichen Freundlichkeit, liebenswürdig und höflich. Wie ein Instrument, das nur einen Ton zu spielen in der Lage war, keine Note höher oder tiefer, keine Liebe, keinen Hass, gab es stets nur Freundlichkeit. An manchen Abenden, wenn sie Papa im Flur begegnete und er sie anlächelte, war Anne nicht sicher, ob er ihren Namen noch wusste.
Es hatte einen Tag gegeben, an dem Anne ihren Vater in der Stadt gesehen hatte, wie er in einen fremden, roten Wagen gestiegen war, zu einer fremden Frau. Die Bedeutung dieser Szene kannte sie nicht. Er war später zurückgekommen als sonst, in jener Nacht, saß an dem kleinen Tisch und verzehrte ein belegtes Brot, als sie die Küche betrat. Die Mutter war damit beschäftigt den Kühlschrank zu reinigen. Gesprochen wurde nicht. Anne hatte sich vorgenommen zu fragen, scheinheilig, wie denn sein Arbeitstag gewesen sei. Doch als sie den Mund aufmachte, überfiel sie die furchtbare Angst, eine Antwort zu bekommen, in der kein rotes Auto vorkam und keine harmlose Arbeitskollegin. Sie hatte Angst, seine ruhige, gleichmäßige Stimme würde von Überstunden erzählen, oder einem Firmenmeeting, während Mama auf Knien die untere Hälfte des Kühlschranks wischte. Er war zufrieden gewesen, an jenem Abend. Und das hatte ihre Mutter so erbärmlich wirken lassen, mit ihren Putzlappen und dem Eimer.
Es gab Dinge, die Anne entsetzliche Angst machten, viel mehr, als vom Teufel geholt zu werden. Daher widmete sie sich lieber ihren okkulten Büchern, als über ihren Vater nachzudenken, der sogar an einem Feiertag unvorhergesehen ins Büro gerufen worden war. Und Anne wusste, er würde auch heute erst spät heim kommen.

„Mit der Ausbreitung des Christentums hielt auch der Teufel Einzug in Dunkelland. Das Reich der Wünsche entwickelte sich in christlicher Vorstellung zu einem Hort böser Mächte und Dämonen. Allgemein verlor die Legende unter der fortlaufenden Christianisierung Europas allerdings rasch an Bedeutung und verschwand schließlich von der Bühne eigentlich kein Komma menschlicher Vorstellungskraft. Eine wirkliche Renaissance erlebte Dunkelland erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem in Großbritannien, als eine Reihe von Geheimbünden und magischen Zirkeln dessen Geheimnisse zu ergründen versuchte. Im Zuge des in Mode gekommenen Spiritismus des viktorianischen Zeitalters wurden verschiedenste Rituale und Praktiken entwickelt, um die Türe in das Wunschland zu öffnen. Während einige dieser Versuche durchaus bizarr anmuten, wird aus verschiedenen Quellen von der simplen Tatsache gesprochen, dass jeder der es nur wirklich wolle, auch Einlass finden würde. Komplizierte Beschwörungen seien ebenso wenig von Nöten wie die Scharlatane, die sie durchführen. Nur der eigene Wille zähle, nicht aber das Motiv. Doch Vorsicht ist geboten: Dunkelland ist stets wie man es sich wünscht, aber selten wie man es erwartet.“

Inzwischen fror sie erbärmlich und der Tag neigte sich dem Ende zu. Bevor sie ging wollte sie es aber noch versuchen. Wenn sie ehrlich war, deswegen war Anne eigentlich gekommen. Sie hatte nichts weiter von zuhause mitgebracht als ihren Willen. Und einen Wunsch. Eine Hoffnung. Einfach die Augen schließen und es wollen. Von ganzem Herzen, ich bitte dich mein Gott. Wie ein kleines Kind das tun würde. Ich will, ich will, ich will. Jetzt!

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Doch, es hatte sich etwas verändert. Der Regen hatte aufgehört. Die Krähenrufe waren verstummt. Vollkommene Ruhe lag über der Lichtung. Der Wald war leblos geworden, am Ende eines solchen Tages im Spätherbst. Alles war in die Farben der Fäulnis getaucht. Das schwächer werdende Tageslicht malte Schatten zwischen die Bäume, während die Welt begann ihre Konturen zu verlieren.
Jeder ihrer Schritte wirkte jetzt aufdringlich laut im modrigen Laubwerk. Ihr Atem ging rasch, sie hatte mehr Zeit unter der alten Buche verbracht als geplant gewesen war. Etwas lebendiges, warmes, etwas pulsierendes wie ihr erhitzter Körper passte einfach nicht an diesen Ort, zu dieser Zeit.
Ungefähr die Hälfte des Feldweges lag hinter ihr als dieses Gefühl begann in ihr hochzusteigen, wie eine beklemmende Übelkeit:
„Hinter dir ist etwas.“
Anne kannte das. Eine Panikattacke kündigte sich an. Damit musste man rechnen, wenn man sich andauernd an einsamen Orten herum trieb und nicht von billigen Büchern und schlechten Filmen lassen konnte. Aber die Hauptstrasse war nahe. Und die Beine wurden von allein schneller. Hatte sie zu Beginn noch auf den Weg geachtet, trat sie jetzt wahllos in jede Pfütze, versank an mancher Stelle knöcheltief im Schlamm.
„Es kommt hinter dir her, torkelt den Weg entlang, irgendwie verdreht, verkrüppelt, ohne Gesicht. Streckt seine dünnen Ärmchen nach dir aus, gierig, schmatzt und quiekt leise, so wie die Babys es tun, wenn sie hungrig werden.“
Das Blut wurde viel zu schnell durch ihren Körper gepumpt. Sie fühlte Hitze in sich aufwallen.
„Dreh dich einfach um Anne, bevor du hysterisch wirst, überzeuge dich. Beende es. So oder so.“
Mit einem Schlag wirbelte sie herum. Starrte auf den Weg, den Wald, der im Zwielicht zu einem dunklen Band am Horizont verschmolzen war. Verkrampft, Schweiß gebadet. Sie blieb reglos stehen und beobachtete das Ende des Pfades, gerade so, als würde sie darauf warten, dass sich etwas aus dem Schatten der Bäume löst um auf sie zu zuwanken.
Aber da war nichts. Nichts außer einem grauen Feldhasen, der einige Meter vor ihr auf dem Weg kauerte, die langen Löffelohren wachsam aufgestellt.
Motorenlärm durchbrach indes die Stille. Sie konnte Reifen hören, die über nassen Asphalt glitten. Scheinwerfer blitzten für einen Moment auf und verschwanden wieder. Die Hauptstrasse war nahe.
Wäre das Tier ein wenig näher gekommen, Anne hätte die Wirklichkeit wohl erkannt, wie sehr das bräunliche Fell von Räude zersetzt und die nässende Haut von wucherndem Ungeziefer übersäht war, das den Hasen bei lebendigem Leib aufzufressen begann.
So aber zeichnete das Zwielicht ein putziges Osterhäschen, dem Anne gerne begegnen wollte, in diesem Augenblick. Wie gerne hätte sie es gestreichelt.

Einige Meter vor der Ortstafel war die erste Straßenlaterne aufgeflackert und warf ihr weiches, gelbliches Licht auf den glitzernden Asphalt. Die Kirchenglocke rief zur Abendmesse und brachte mit jedem Schlag ein wenig Geborgenheit mit, die sich in einem entspannten Lächeln über ihr Gesicht legte.
Denn Anne wusste, Vater Tadek, der dieser Gemeinde vorstand, würde auch an diesem Feiertag mit dem regen Zustrom gläubiger Katholiken seine liebe Not haben. Seit beinah vierzig Jahren übte er das Priesteramt schon aus, hatte getauft, verheiratet und begraben. Unzählige Predigten waren in seinem Pfarrhaus erdacht und niedergeschrieben worden. Wenn es aber darum ging, auf die Kanzel zu steigen und das Wort Gottes zu predigen, plagte ihn auch jetzt noch das Lampenfieber.
Als Annes Mutter sie damals mit dem Versprechen, Anne würde unter den Kindern neue Freunde finden, gezwungen hatte, der christlichen Jungschaar beizutreten, hatte sie zunächst wenig über gehabt, für den alten Mann, in seiner schwarzen Kluft. Die Jugendgruppe gab es nun schon seit Jahren nicht mehr und letztlich war auch das Versprechen der Mutter unerfüllt geblieben. Anne aber kam immer noch. Von Zeit zu Zeit jedenfalls, stattete sie dem alten Tadek einen Besuch ab, trank Tee mit ihm, diskutierte, oder ging ihm etwas zur Hand. So hatte sie erfahren, dass er als junger Mann aus Polen hergebracht worden war. Weshalb und von wem, das sei eine andere Geschichte, für die später noch Zeit genug wäre, seiner Meinung nach. Sie wusste auch, das in dem Holzschrank, der sich in dem kleinen Zimmer hinter dem Altar befand, verborgen hinter Messgewand und Stola, eine große Flasche Wodka aufbewahrt wurde, die regelmäßig erneuert werden musste.
Tadek war leichtsinnig gewesen, hatte die Flasche an jenem Tag nur halbherzig versteckt. Anne war leichtsinnig gewesen, sie einfach aus dem Schrank zu holen. Beide hatten sich erschrocken, als sie sich plötzlich gegenüber standen, die große, weiße Flasche zwischen ihnen, mit dem leuchtend blauen Etikett. Sie war halb leer gewesen.
„Schau Anne“, hatte er in ruhigem Ton schließlich gesagt, „ich weiß, das sollte nicht sein.“
Der erwartete Angriff, das Gebrüll, so wie sie es von zu Hause her kannte, blieb also aus.
„Aber Gott kümmert sich nicht um diese Flasche, glaub mir.“ Er nahm den Wodka bedächtig aus ihrer Hand und stellte ihn zurück in den Schrank, diesmal mit mehr Sorgfalt.
„Schon vor langer Zeit haben wir eine Abmachung getroffen. Gott und ich. Er wird mich deshalb nicht richten, wenn ich eines Tages vor ihm stehe. Und ich werde ihm vergeben. Wenn die Zeit dafür gekommen ist.“
Der alte Mann betrachtete Anne mit einem lakonischen Lächeln. „Das ist es doch, was den wahren Christenmenschen ausmacht: Vergebung.“
Er schloss den Schrank und versperrte ihn. „Oder etwa nicht?“
Anne erwiderte nichts. Sie war beschämt, wollte fort.
„Hast du gewusst, dass es Dinge gibt, die man Gott nicht vergibt?“ fragte er, nun in deutlich ernsterem Ton. „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, heißt es.“ Er hielt einen Moment inne, dachte nach. „In diesem Satz liegt eine Menge mehr, als die meisten Menschen ahnen.“
„Aber ist das nicht ein wenig hochmütig?“ Ihre Stimme klang schmal und unsicher. „Ich meine, Gott zu vergeben, oder auch nicht. So als würde er Fehler machen.“
Tadek trat ein Stück näher an sie heran. Dann schob er den Ärmel seines Hemdes ein wenig nach oben und hielt Anne seinen entblößten Arm entgegen.
„Wo solche Nummern aus gegebenen werden, da ist kein Gott“, kam es überraschend scharf.
Tatsächlich waren in die faltige Haut zwischen Altersflecken und Muttermalen fünf Ziffern in dunkelgrüner Farbe eintätowiert worden. Eins, zwei, fünf – die beiden letzten Zahlen konnte sie nicht mehr richtig erkennen. Die Tätowierung war offensichtlich schon vor vielen Jahren gemacht worden und alterte mit dem Fleisch, in das man sie einst gestochen hatte.
„Ich habe wirklich viel Zeit damit verbracht darüber nachzudenken, wo Gott gewesen ist, als man meinen Namen gegen diese Nummer getauscht hat,“ sagte er. „Und immer, wenn diese Nummer gerufen wurde, habe ich zu ihm gebetet, es möge das letzte mal sein.“
Er sah Anne mit erwartungsvollen Augen an. „Kannst du dir vorstellen wer mich am Ende gerettet hat? Gott vielleicht?“ Tadek schüttelte den Kopf. „Die Rote Armee ist gekommen. Eine Horde gottloser Bolschewiken hat das Lager befreit.“
Ein merkwürdig dumpfer Ausdruck setzte sich in seinem Gesicht fest, als wäre sein Verstand fort geflogen, in eine unwirkliche Vergangenheit.
„Gott oder Stalin. Ich muss gestehen, es hat Zeiten gegeben, da fiel es mir schwer einen Unterschied zu erkennen“ fuhr er leise fort. „Wir sind oft zusammen gesessen, in den ersten Tagen, nachdem alles vorüber war. Die Soldaten und ich. Wir haben getrunken, gespielt und geredet, während die Räumpanzer den Schutt und die Leichen zusammen geschoben haben.“ Er knöpfte seinen Ärmel wieder zu und betrachtete das arme Mädchen, wie es vor ihm stand, offensichtlich verwirrt.
„Von diesen Leuten habe ich übrigens auch meine erste Flasche Wodka bekommen. Wie du siehst, der Beginn einer lebenslangen Freundschaft“.
Tadek begleitete Anne aus dem kleinen Raum zurück in die Kirche. Keine gläubige Seele hatte sich an diesem Nachmittag hier eingefunden, der hohe, ausladende Raum lag friedlich und still im Halbdunkel.
„Und wenn er niemals um Vergebung bittet?“, fragte sie.
Sie hatten das Kirchentor erreicht.
„Vielleicht muss er sich ja nur dafür entschuldigen, dass es ihn überhaupt nicht gibt“, meinte Vater Tadek und stieß mit einem Ruck das schwere, gotische Eichentor auf. „Und wer außer Gott könnte das wohl zustande bringen?“
Anne war in einen sonnigen Nachmittag im Spätsommer hinaus getreten. Die Wärme auf ihrem Körper tat gut, gab ihr Leben zurück. Ihre schwarze Kleidung sog die Sonnenstrahlen gierig auf. Tadek hatte ihr noch Grüße für die Eltern aufgetragen und die freundliche Ermahnung, auch Vater und Mutter könnten sich sonntags mal wieder in der Kirche blicken lassen. Danach war das Tor wieder ins Schloss gefallen und der Platz lag einsam vor ihr, so verlassen wie dir Kirche selbst.
Anne erinnerte sich, der Gegensatz war groß gewesen, in diesem Moment. Die Luft hier draußen, so warm und überreich an ungezählten Düften, jeden Tag aufs Neue von Sonne und Wind komponiert. Lebendig. Bewegt. Die sakrale Mischung aus Weihrauch und Kerzenruß dagegen hatte sich fest gefressen in der Dämmerung des Kirchenschiffs. Die ewige Kälte roch nach Sandstein, der in großen Quadern übereinander getürmt das starre Haus Gottes formte.

Bitte für Teil 2 im nächten Beitag weiter lesen

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dunkelland Offline




Beiträge: 154

14.04.2008 23:32
#2 RE: Dunkelland Antworten

Dann war sie heim gegangen, auf demselben Weg, der nun so finster und kalt vor ihr lag, dass sie ihn lieben musste. Denn das entsprach ihrem Naturell. Diese einsamen Straßen waren Lebensmomente, zwischen all den Stunden mit Menschen die sie nicht mochte. Während rings um sie in den Häusern geschrien und geschlagen wurde, geliebt und gelacht, folgte sie der Strasse, wanderte durch ein dunkles Land. Unverletzt und stark. Sie genoss die Freude am Traurigsein, frönte ungeniert der blutroten Lust am Träumen und wurde eins mit den Dingen, die es nur für sie gab, in diesem Moment.

Gedämpft drang das Orgelspiel durch die dicken Mauern nach außen, als Anne die Kirche erreicht hatte. Vater Tadek hatte also mit seiner Messe begonnen, auch an diesem Abend nervös und verunsichert. Denn Gott war immer noch stumm. Ein leeres Mausoleum, bewacht von einem untreuen Diener, dachte sie.
Armer Tadek. Die Predigt lag noch vor ihm. War er doch das schwächste Glied in einer Kette, welche die Gläubigen dieses Ortes zusammen halten sollte. Aber seine Angst machte ihn auch sympathisch. Menschlich. Und damit auch ein klein wenig göttlich, fand Anne.

Als sie die Haustüre öffnete war der Krieg schon voll im Gange. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer entnahm sie dem Stimmengewirr, das Rebecca die letzte halbe Stunde offensichtlich damit verbracht hatte, etwas klebriges über den Teppich in zu verteilen. Eine Herausforderung an den Reinigungstrieb der Mutter, die ihren Lebensmut zunehmend an den schmutzigen Fingern der jüngeren Tochter maß. Mama brüllte, Rebecca weinte. Irgendetwas flog gegen die Wand und barst in tausend Scherben. Stille. Dann kam der Schlag.
Ein schriller, hoher Kinderschrei dehnte sich zu einem langgezogenen Heulen, das schließlich in unterdrücktes Schluchzen überging.
Anne schloss die Türe und legte sich auf ihr Bett. Durch die Wand wurde die herrische Mutterstimme etwas gedämpft und entschärft, blieb aber verständlich. Gestern hatte es eine Fernsehdokumentation über die Ureinwohner Südamerikas gegeben, der Vergleich musste also kommen: „Wir sind doch keine Wilden. Ist doch kein Urwald hier.“
Zumindest die Zigeuner hatten jetzt für eine Weile Urlaub.
Die Strafpredigt glich einer altbekannten Melodie. Hohe Stimmlagen mit steigender Erregung – Rebecca widersprach – gefolgt vom Dauerregen gleich klingender Worte wenn die Begriffe Sauberkeit, Anstand und Gehorsam erklärt wurden. Zusehens verloren die ungezählten Worte dabei an Bedeutung und reduzierten sich auf blanke Töne in raschem Takt, drangen angenehm weich und verspielt durch die Wand an Annes Ohr, wie ein vertrautes Musikstück. Ein Ohrwurm, zum mitsummen.
Sie mochte Mozart. Zeige der Königin der Nacht ruhig die Zunge, während sie trällert. Ein wenig Kichern schadet nicht.
Beethoven hingegen war längst tot. Seine „Fünfte“ hatte ausgedient, beeindruckte nicht. Was der Mund einer Mutter zu geben im Stande war, hatte sie vorgesetzt bekommen. Irgendwann verlor eben alles seinen Geschmack. Selbst die Furcht.
Die Ouvertüre hatte sie schläfrig werden lassen, nach dem Ende des ersten Satzes war sie eingeschlafen. Nur das kleine Licht auf ihrem Nachttisch brannte noch einsam in der Dunkelheit.

Kurze, hastige Schritte bahnten sich ihren Weg durch Annes Traum bis in die verworrene Wirklichkeit der halb Schlafenden. Rebecca flüchtete sich manchmal in das Schlafzimmer der Eltern, wenn sie es nachts mit der Angst bekam. Anne registrierte das Geräusch nur beiläufig, mit Widerwillen. Sie forderte ihren Traum zurück, der schon zu verblassen begann, und drehte sich schwerfällig auf die andere Seite.
Doch die flinken, kleinen Füßchen wollten nicht still stehen, kamen erneut an ihrem Zimmer vorbei, wieder und wieder. Viel zu laut, zu deutlich. Ihr wurde nicht sofort klar, dass die Türe zu ihrem Zimmer weit offen stand. Erst als das Getrappel für einen Moment aussetzte, direkt vor ihr, öffnete sie die Augen.
Dunkelheit. Die Straßenlaterne, einige Meter von Annes Haus entfernt, spendete nur einen schwachen, grauen Lichtschein, gerade genug um den schwarzen Schlund der geöffneten Türe zu umreißen und die Gestalt, die darin verschwand.
Wieder die kurzen, schnellen Schritte.
Anne setzte sich auf.
„Rebecca“?
Augenblicklich wurde es still.
Jemand stand dort draußen, im Flur.
Warten.
Annes Hand begann nach dem Lichtschalter der kleinen Nachttischlampe zu tasten.
Eines der Bücher, die sie neben ihrem Bett auf der Kommode stapelte, wurde durch die hastig suchenden Finger hinunter gestoßen, schlug dumpf am Boden auf.
Jetzt kamen die Schritte zurück, langsam, auf ihr Zimmer zu.
Sie bekam das Kabel zu fassen, folgte ihm bis zu dem Kippschalter.
Licht flammte auf.
Vor ihrem Zimmer ertönte leises Gekicher.

Papa hatte sogenannte Sparlampen im Flur montiert, die einige Sekunden benötigten, bis die volle Leuchtkraft erreicht wurde.
„Was soll das? Was tust du denn da?“
Rebecca antwortete nicht. Anne konnte den kleinen Körper im Halbdunkel sehen, wie er über den Flur wanderte, sich von ihr entfernte und auf die Badezimmertüre zuhielt. Das kleine Mädchen trug ihr rosa Nachthemd, das die zarten, nackten Füße bis zu den Knöcheln verbarg. Mit der linken Hand zog sie ihr liebstes Stofftier, einen großen, grauen Hasen, dessen aufgenähte Augen ausdruckslos in Annes Richtung stierten, wie ein erlegtes Opfer hinter sich her.
Anne wusste nicht, ob es an dem ungesund flackernden Kunstlicht lag oder sich ihre Schwester tatsächlich merkwürdig steif, beinah hölzern bewegte, als wären Knie- und Hüftgelenke grausam deformiert. Die Gangart dieser Gestalt ließ auf einen schwer behinderten Menschen schließen, die Geschwindigkeit allerdings war die eines gesunden Kindes.
Vor der Türe zum Bad blieb Rebecca stehen. Die Sparlampen füllten den Korridor jetzt mit grellem Licht aus.
„Mama hat sich angemacht“, sagte das Mädchen in ernstem Ton, ohne sich umzusehen. Das lange Haar wand sich in verfilzten Strähnen über Schultern und Rücken herab.
„Geh und sieh nach!“
Dann verschwand die Gestalt im lichtlosen Badezimmer.
Mit lautem Knall schlug die Türe hinter ihr zu.

Seit Jahren war Anne nachts nicht mehr in das Zimmer ihrer Eltern gekommen. Nur Rebecca hatte dieses Privileg noch und die nutze es auch, mehr als Anne es sich jemals getraut hätte.
Ihre Hand umfasste die kühle, metallische Türklinke und drückte sie vorsichtig hinunter.

Kurze, gierige Atemzüge, die in trockenen Husten übergingen, drangen aus der Dunkelheit. Anne konnte das Knistern von Bettwäsche hören, das Knarren des Bettkastens. Ein tiefes Röcheln setzte ein, das mehr und mehr zu kurzen, hastigen Atemstößen anschwoll.

Licht.

Ihre Mutter lag auf dem Bett, bleich und nass von Schweiß. Die Hände der Frau ruderten in wildem Gestenspiel, packten alles, ließen los, suchten und verbissen (verkrallten???) sich schließlich in die eigene Brust, die sich kaum noch heben oder senken wollte. Das Gesicht war grau, die farblosen Lippen öffneten und schlossen sich rhythmisch wie bei einer sprechenden Puppe.
Mamas Augen waren weit aufgerissen und rollten wild von einer Seite zur anderen. Anne konnte das feine, rote Aderngeflecht auf dem weißen Hintergrund der Augäpfel gut erkennen, unnatürlich erweitert.
Mama rang hysterisch um Luft.
Mama erstickte.
Wie ein Fisch, den man herzlos ans Ufer geworfen hatte, sich windend, zappelnd, das Maul- auf, zu, auf, zu – ertrinkend im eigenen Schleim.
Anne konnte die nackten Zehen der Mutter sehen, wie sie sich verkrampften, dann wieder lösten. Der weinrote Nagellack harmonierte auch jetzt gut mit dem beigen Bettzeug. Zwischen den Beinen hatte sich ein dunkler Fleck über das Leintuch ausgebreitet, auch der untere Teil des Nachthemds war mit Urin vollgesogen und lag an den Schenkeln klebrig an.

Papa war noch nicht heim gekommen. Seine Seite des Bettes war immer noch unberührt, das Bettzeug ordentlich gefaltet und sauber.

Für Anne hatte die Szene in ihrer ganzen Grausamkeit etwas unglaubwürdiges, beinah klischeehaftes. „Schund“ hätte Mama gesagt, wäre so was im Fernsehen gekommen.
Die Mutter richtete sich auf, nur wenige Zentimeter. Wieder dieses Röcheln, begleitet von einem hohen, hohlen Ton, als ob die Frau ein Loch im Hals hätte.
Ein Requiem für die Königin der Nacht. Mozart war wirklich ein Genie.
Anne konnte sich nicht erinnern Mama jemals gerochen zu haben, selbst nach harten Arbeitstagen nicht. Da war immer nur der feine Duft von Parfum gewesen, oder Duschgel, denn Reinlichkeit ist wichtig. Keine Ausdünstung, kein Schweiß, kein Uringestank im Bett.
Königinnen sterben nicht. Sie verscheiden, dachte Anne.
Aber jetzt roch sie es. Würde roch nicht nach Schweiß. Und Macht nicht nach Urin.
Für Anne hatte diese Szene etwas Unglaubwürdiges. Schund eben, so wie man ihn im Fernsehen vorgesetzt bekam.

Das schnurlose Telefon befand sich im Wohnzimmer. Eine Lungenembolie vielleicht, oder ein Herzinfarkt. Wie hieß das noch mal wenn Luft zwischen Lunge und Rippen gerät? Sie kannte diese Begriffe aus den amerikanischen Arztserien.
Die Notrufnummern waren auf einem gut sichtbaren, roten Klebeetikett neben dem Telefon abgedruckt. Polizei, Feuerwehr, Rettung.
Pneumothorax! Das war es.
Sie machte sich auf den Weg zurück in das Schlafzimmer der Eltern während sie wählte.
„Ein Pneumothorax“, murmelte sie Gedanken verloren. „Das könnte es sein.“

„Sieh genau hin!“
Anne hatte nicht bemerkt, wie eine kleine Hand während ihrer Abwesenheit das Licht im Flur gelöscht hatte. Nun wurde der Korridor nur noch durch die Lampe im Elternschlafzimmer schwach erleuchtet. An der Stelle, wo das Licht sich endgültig zu verlieren begann, stand Rebecca.

Eine dünne, metallische Stimme meldete sich aus dem Funktelefon, fragte nach dem Notfall.

„Sieh genau hin, wenn du zu Mama gehst“, sagte Rebecca streng. Sie hielt den Kopf etwas gesenkt, das Gesicht wurde von ihrem langen Haar großteils verborgen. Und doch konnte man im Halbdunkel erkennen, das sich etwas verändert hatte. Der Mund wirkte jetzt viel breiter, als würden die Mundwinkel bis zu den Ohren reichen. Auch die Arme waren seltsam dünn geworden, abgemagert bis auf das Knochengerüst und von heftigen Zuckungen durchfahren. Dafür schienen Daumen, Zeige- und Mittelfinger verlängert zu sein, Anne konnte deutlich erkennen wie sich diese drei Finger langsam gegeneinander bewegten, ständig öffneten und schlossen.

Immer noch drang die künstliche Stimme aus dem Telefonhörer, jetzt schon deutlich ungeduldiger. Die Art des Notfalls, eine Adresse, ein Lebenszeichen, wollte man haben.

Die Angst lastete auf Anne, so schwer, das sie schon in Müdigkeit überging. Eigentlich wollte sie rennen, sie kannte den Weg und würde nicht stolpern oder fallen. Aber sie fühlte die Glieder schwer werden, fühlte die Lähmung ihre Beine hochsteigen, durch ihre Arme strömen, die Augen erfassen. Den Blick starr auf dieses Wesen gerichtet, wie es da am Ende des Flures kauerte. Wenn sie sich bewegte, würde es das Ding vielleicht auch tun. Und das wäre einfach zu viel.

Wieder der trockene Husten aus dem Elternzimmer.

„Geh und schau Anne. Dafür bist du doch da“, säuselte die Stimme vom anderen Ende des Korridors sanft, beinah schon liebevoll. „Dann darfst du auch gehen.“

Aufdringlich laut drang der helle Piepton aus dem Hörer. Einfach aufgelegt.


Anne stolperte ein paar Schritte rückwärts über den Flur, tastete sich an der Wand entlang, immer dem Lichtkegel der offenen Tür entgegen. Nur wenige Meter, dann war das Schlafzimmer erreicht. Die Kreatur hockte weit hinten im dunklen Flur und verfolgte jede Bewegung mit gieriger Aufmerksamkeit. Anne konnte das verzerrte Grinsen wohl erkennen.
„Na, kannst du es schon sehen?“
Die Mutter verstrickte sich immer tiefer in ihren Todeskampf. Längst war das Gesicht der Frau bläulich angelaufen, die blutroten Augen aus den Höhlen getreten, unzählige Äderchen geplatzt. Was da auf dem Bett lag hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit der starken Frau, die Anne so gerne gehasst hatte.
Eigentlich wollte sie jetzt heulen. Sie fand, das wäre ein guter Zeitpunkt, weil es nichts mehr gab, an das man sich hätte halten können. Der richtige Moment um aufzugeben, in einer Welt, die sich an nichts hielt, was man jemals irgendwo von irgendwem gelernt hatte, schien gekommen.
Doch als die ersten Tränen ausbrachen begann es Konturen anzunehmen. Der salzige Schleier vor Annes Augen verzerrte das Bild, aber es gewann an Substanz, an Schärfe, bis die Szenerie vollständig war.
Da saß etwas auf ihrer Mutter. Es war groß und sehr fett aber überaus wendig. Wie sehr sich Mama auch bewegte, es glich jede Bewegung perfekt aus und drückte dann noch stärker auf den Brustkasten. Die Hände hatte es um Mamas Hals gelegt, lange, schlanke Finger drückten gekonnt zu, niemals stark genug um ein Ende zu machen. Das Wesen lächelte milde, beugte sich vor und küsste die Mutter innig, strich tröstend über ihr Haar, ließ die wohlgeformten Finger über Schultern und Brüste gleiten, bevor es wieder liebevoll zu würgen begann.

„Jetzt kannst du es sehen, nicht wahr“, sagte Annes Vater mit der üblichen Freundlichkeit.
Er war dünner geworden und auch seine Glieder zitterten und zuckten unkontrolliert, aber das gewohnt gleichgültige Lächeln brachte er zu Stande.
“Ich finde es ist Zeit. Wir wollen gehen“, fuhr er fort.
Von Mama war nichts weiter übrig als eine bunte Karikatur auf grauer Leinwand.
Tränen hatten die falschen Farben von der Wirklichkeit abgewaschen. Zunehmend füllte sich alles hier mit Leben, in jedem dunklen Winkel wand es sich, schwarz auf grau.
„Du bist aber nicht wirklich mein Vater“, erwiderte Anne.
„Natürlich nicht.“
„Gut. Sonst würde ich auch nicht mit dir gehen.“
Das Funktelefon schlug dumpf auf dem Teppichboden auf.
„Meinst du, wir werden uns vertragen“, fragte sie.
„Gib der Sache eine Chance“, sagte die Gestalt und setzte das freundlichste, falsche Lächeln auf, das jemals jemand versucht hatte zu benutzen.
Sie hatte ihre Zweifel, als sie sah, wie das vertraute Vatergesicht in einem diabolischen Grinsen zerrann, aber Anne war auch überrascht, wie schnell man sich an etwas gewöhnen konnte, hatte man erst einmal den Verstand verloren.
Aus den Augenwinkeln konnte Anne erkennen, dass etwas aus dem Wohnzimmer gekrochen kam. Es hatte die Gestalt eines Neugeborenen, nur der Gesichtsschädel war stark verlängert und formte eine monströse Fratze. Die Kreatur krabbelte die Wand entlang, schließlich über die Zimmerdecke, bis es mit blinden Augen das Licht aus dem Schlafzimmer witterte und winselnd in der Dunkelheit des Flurs verschwand.
„Du wirst mich umbringen“, erklärte sie.
„Ja“, antwortete die Gestalt des Vaters. „Aber das eröffnet neue Perspektiven. Du wirst sehen. Nimm nur die rote Blende ab, so ist auch Blut nichts weiter als schwarzes Wasser.“
Sie wandte sich um.
„Und was wird aus Mama?“
„Sie ist in guten Händen. Mach dir keine Sorgen.“
Anne streifte ihren Mantel über.
„Ich würde gerne noch beim Pfarrhaus vorbei sehen“, sagte sie während ihre Hand nach dem Buch tastete, das sich immer noch in der Manteltasche befinden musste.
„Wir haben genügend Zeit. Nimm mit dir, was du brauchst.“
Sie wollte sich auf den Weg machen, da ertönte hinter ihr ein aufgeregtes Quicken und Schmatzen, beinah so wie die Babys es tun, wenn sie hungrig werden. Die Vatergestalt streckte die dünnen Ärmchen gierig nach Anne aus und torkelte langsam auf sie zu, auf verdorrten Beinen, irgendwie verdreht, verkrüppelt. Sie ergriff die zittrigen Hände, fühlte, wie das Wesen sich zufrieden an sie schmiegte. Dann machten sie sich gemeinsam auf, hinaus in die Nacht.

Epilog:

Manchmal träumt sie noch. Von grauen Tagen im Spätherbst und von der Frau, die in der eisernen Lunge eingeschnürt ist, in dem kahlen, weißen Zimmer im Krankenhaus. Bedrückende Träume sind das, doch fast immer ist ihr Vater da um sie zu wecken, bevor es wirklich unangenehm wird.
Manchmal träumt sie auch von dem alten Priester, ertappt ihn kniend vor dem Altar, mit leeren Augen, beim heimlichen nicht beten. Sie kann den Alkohol riechen. Aber das ist nicht schlimm. Denn sein Name steht bereits auf der Liste. Das würde ihn freuen, wenn er es wüsste. Recht weit unten zwar, aber immerhin.
Manchmal überlegt sie, ob sie ihm nicht ein wenig helfen sollte. Die Sache etwas beschleunigen.
Das könnte sie tun.
Immerhin ist sie Anne.

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